Predigt des Landesbischofs Dr. Heinrich Bedford-Strohm
am 25.9.22 in Großkarolinenfeld zum 200. Jubiläum der Karolinenkirche
Predigttext: Gal 5,25–6,10
Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. Brüder und Schwestern, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid. Und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest. Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst. Ein jeder aber prüfe sein eigenes Werk; und dann wird er seinen Ruhm bei sich selbst haben und nicht gegenüber einem andern. Denn ein jeder wird seine eigene Last tragen. Wer aber unterrichtet wird im Wort, der gebe dem, der ihn unterrichtet, Anteil an allen Gütern. Irret euch nicht! Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten. Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen. Darum, solange wir noch Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.
Liebe Gemeinde hier in Großkarolinenfeld,
„Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln“ – der Satz, den Paulus vor 2000 Jahren der Gemeinde in Galatien zugerufen hat, der passt auch heute, an diesem Tag, an dem wir 200 Jahre Karolinenkirche feiern. Und er passte damals 1822, als die Karolinenkirche als erster evangelischer Kirchenbau Altbayerns eingeweiht wurde. Es waren rheinische Protestanten, die Kriegsjahre, unglückliche Lebenserfahrungen und die Hoffnung auf ein besseres Leben hierhergetrieben hatte – so formulierte es Johann Stephan Tretzel in der „Kurzen Geschichte der Kolonie und protestantischen Pfarrgemeinde Großkarolinenfeld". Er erzählt von der Armut, die damals herrschte und davon, wie die Siedler das wenige, was sie hatten, für allerlei weltliche Genüsse auch noch im Krämerladen verprassten. Und er erzählt von dem neben der Landwirtschaft anderen „sonderbaren Erwerbszweige“, mit dem man hier seinen Lebensunterhalt verdiente. Aus dem städtischen Kinderhaus in München wurden hierher Kinder geschickt, mit deren Pflege die Menschen hier Geld verdienen konnten. Auch von der Einweihung am 13. Oktober 1822 berichtet Tretzel detailliert. In dem Zug, der sich zur Einweihung der Kirche in Bewegung setzte, ging „die Jugend voran männlich und weiblich, jedes Geschlecht gesondert, Paar und Paar. Dann folgten die Arbeitsleute, welche an der Kirche gearbeitet hatten, auch die der katholischen Konfession schlossen sich an.“ Schon damals wurde ökumenisch gefeiert!
Und jetzt sind wir hier zusammen, 200 Jahre später, und feiern dieses Jubiläum in einer Zeit großer Verunsicherung, einer Zeit, in der wir darum ringen, die Zuversicht nicht zu verlieren, uns nicht überwältigen zu lassen von der Übermacht der Krisen und Herausforderungen, in der wir aber auch immer wieder spüren, dass uns Kraft gegeben wird, mit alledem umzugehen, in der wir merken: Herausforderungen erfordern Veränderung. Und wo wir uns auf Veränderung einlassen, da können wir auch diese wunderbare Erfahrung machen, dass die Kraft dadurch nicht kleiner, sondern größer wird.
„Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln“ – das, liebe Gemeinde, ist deswegen ein so starker Satz, weil er nichts Unmögliches fordert. Weil er nicht den vielen Anforderungen, denen wir ausgesetzt sind, noch eine weitere hinzufügt, sondern das Entscheidende gleich zu Beginn sagt: Wir leben im Geist! Wir leben in der tiefen Gewissheit, dass nichts uns trennen kann von der Liebe Gottes, weder Tod noch Leben, weder Mächte noch Gewalten, weder irgendein Virus noch all die anderen Unwägbarkeiten des Lebens, und auch nicht Krieg oder Wirtschafts- und Energiekrise. All das mag uns erschüttern und verunsichern – zerstören kann es uns nicht, denn nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes! Diese Gewissheit ist es, die der Geist in uns wirkt.
Und diese Gewissheit kann tatsächlich nur der Geist wirken. Kopf und Verstand vermögen das nicht. Ich kann mir am Abend, wenn ich in meinem Glücksratgeber lese, wie wichtig Zuversicht für ein glückliches Leben ist, zehnmal sagen: ab morgen bin ich zuversichtlich. Und doch spüre ich es am nächsten Morgen kein bisschen mehr als am Abend zuvor! Nur der Geist kann das wirken, weil er nicht nur Kopf und Verstand, sondern Herz und Seele erreicht.
Und deswegen ist heute ein Tag so großer Dankbarkeit. Denn diese Kirche, die Karolinenkirche, die ist nun seit 200 Jahren ein Ort, an dem der Geist genau das wirkt. So viele Menschen haben hier gebetet, ihr Herz geöffnet für den Geist und Stärkung erfahren. So viele Menschen haben hier auf das Wort Gottes gehört und daraus Orientierung für ihr Leben bekommen. So viele Menschen sind traurig in diese Kirche gegangen und getröstet wieder nach Hause gegangen. So viele Menschen sind mit einem Segen im Rücken aus dieser Kirche wieder gestärkt in ihren Alltag gegangen. Haben das in Herz und Seele wirklich gespürt, wovon Paulus spricht: Dass wir im Geist leben!
Wo wir uns dem Geist öffnen, da öffnet sich der Horizont für die wunderbare Erfahrung, die Paulus in einem Satz zum Ausdruck gebracht hat, der mir selbst so wichtig ist, dass ich ihn mir zum Motto für meine Bischofszeit gewählt habe: „Der Herr ist der Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit!“ (2.Kor 3,17). Wo wir eine geistgewirkte innere Freiheit spüren, da können wir auch neu handeln. Dass wir aus dieser inneren Freiheit heraus neu leben, genau das meint Paulus, wenn er sagt: „Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln.“
Und dafür, was das bedeutet, liefert er dann nun auch eine ganze Menge konkrete Hinweise. Und gleich die ersten beiden zeigen wie hochaktuell seine Worte sind.
„Brüder und Schwestern“, sagt er, „wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid. Und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest.“
Gerade jetzt sind diese Worte so wichtig. Denn in unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Kultur ist so viel Unbarmherzigkeit. Von dem sanftmütigen Geist, von dem Paulus spricht, ist so oft nichts zu spüren. Irgendjemand macht einen Fehler, und sofort bricht, angefeuert durchs Internet, eine Empörungswelle los. Alle sind sich einig in der Verurteilung nicht nur des Fehlverhaltens, sondern auch des Menschen, der dieses Fehlverhalten an den Tag gelegt hat. Mit einem Schlag kann ein Mensch geächtet sein, der vorher von allen respektiert oder sogar geliebt worden ist.
Paulus sagt: er bleibt doch ein Mensch! Ein Mensch, der doch da, wo er seinen Fehler erkennt, Barmherzigkeit erhoffen darf, so wie jeder und jede von uns Barmherzigkeit erhofft, wo wir einen Fehler gemacht haben.
So klug sind deswegen die Worte des Paulus! „Brüder und Schwestern, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid. Und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest.“ Barmherzig sein gegenüber anderen und sich seiner eigenen Fehlbarkeit bewusst sein – wo wir so im Geist leben, da können wir wirklich Salz der Erde und Licht der Welt sein.
Und auch der direkt folgende zweite Hinweis des Paulus: wie könnte er aktueller sein?! „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Es gibt wahrscheinlich keinen Satz, der vor dem Winter, der uns jetzt bevorsteht, wichtiger ist als dieser. Wir sind ein starkes Land, wir sind ein wohlhabendes Land, wir sind ein demokratisch gefestigtes Land. Und deswegen kann uns in diesem Land auch Energieknappheit und Wirtschaftsrezession nicht erschüttern, wenn wir eines jetzt zeigen: Solidarität. Einer trage des anderen Last!
Niemand darf in diesem Winter frieren müssen, ohne zu wissen, wohin er sich wenden kann, um es warm zu haben. Niemand darf in diesem Winter seine wirtschaftliche Existenz verlieren und ins Nichts fallen, ohne dass andere da sind, die ihn auffangen. Niemand darf in diesem Winter in die Verzweiflung rutschen, ohne dass da ein Nachbar oder ein Freund ist, der sagt: „Kann ich was für dich tun?“
Lasst uns als Kirche Wärmenetzwerke bilden! Netzwerke, die sowohl im Hinblick auf die Temperatur als auch im Hinblick auf die menschliche Beziehung Wärme ausstrahlen. Lasst uns öffentlich eintreten für die besonders Verletzlichen, die so leicht vergessen werden! Lasst uns die Augen offenhalten für Menschen, die in Not sind, aber es vielleicht nicht zeigen. Lasst uns unsere Herzen und, wo wir können, auch unsere Geldbeutel öffnen, um anderen beizustehen. Lasst uns alle miteinander dazu beitragen, dass der kommende Winter nicht als Kältewinter in die Geschichte unseres Landes eingeht, sondern als Winter der Mitmenschlichkeit!
Ja, wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln! Dieser Satz, liebe Gemeinde ist nichts weniger als ein Schlüsselsatz für die Zukunft der Kirche. Viele machen sich gegenwärtig Sorgen um die Zukunft der Kirche. Manche engagieren sich mit vielen guten Ideen für die Kirche und empfinden dann angesichts der trotzdem hohen Austrittszahlen vor allem Frustration. Wir haben uns auf allen Ebenen unserer Kirche aufgemacht, um unsere Strukturen zu erneuern, um näher bei den Menschen zu sein, um auch mit weniger Geld gute Arbeit zu leisten. Gerade Sie in Großkarolinenfeld sind hier richtig gut auf dem Weg. Und dafür bin ich ungeheuer dankbar.
Aber das Entscheidende liegt noch tiefer. Das Entscheidende ist, dass wir als Kirche ausstrahlen, wovon wir sprechen. Das Entscheidende ist, dass wir im Geist leben und auch darin wandeln. Das Entscheidende ist, dass die Menschen die Liebe spüren, die der Geist in uns wirkt. Und wissen, wo sie sich hinwenden müssen, wenn sie die Quelle dieser Liebe auch in ihrem eigenen Leben spüren und entdecken wollen.
Die Karolinenkirche, liebe Gemeinde, ist genau ein solcher Ort, an dem wir mit anderen gemeinsam diese Quelle immer wieder neu entdecken können. Gleich, wenn wir das Agapemahl miteinander feiern werden, wird es wieder erfahrbar sein. Die Karolinenkirche ist ein Ort, an dem wir die Liebe Jesu Christi im Herzen spüren können, an dem wir den Segen, der über zwei Jahrhunderte in die Mauern dieser Kirche eingeschrieben worden ist und den sie jetzt ausstrahlen, in uns aufnehmen können. Und deswegen danke ich Gott an diesem Tag für diese Kirche. Gott möge Euch alle, die Ihr hier ein- und ausgeht, mit seinem Segen begleiten auf allen Wegen und es Euch spüren lassen!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
AMEN